Dmitrij Dobrovol'skij

Idiome und Übersetzung literarischer Texte (am Material von Dostoevskijs Romanen)

 

Aus der Perspektive der Übersetzungstheorie und -praxis hat die Idiomatik keinen besonderen Stellenwert im Lexikon. Idiome sind vor allem Einheiten des Lexikons. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Übersetzung der Idiome ergeben, sind prinzipiell auf die gleiche Weise zu lösen wie sonstige Probleme auf dem Gebiet der lexikalischen Semantik aus der Sicht zwischensprachlicher Korrespondenzen. Für die Übersetzertätigkeit gilt hier das Gleiche wie sonst bei der Übersetzung lexikalischer Einheiten, nämlich die Priorität der funktionalen Äquivalenz vor der formalen Ähnlichkeit sowie die Priorität des Textes als Ganzheit vor seinen Elementen. Die minimale Übersetzungseinheit ist die Äußerung (und nicht ihre lexikalischen, syntaktischen oder sonstigen Elemente), folglich ist die Adäquatheit der Übersetzung nicht an einzelnen Lexikoneinheiten, sondern am propositionalen Gehalt und an der illokutiven Kraft einzelner Äußerungen zu messen. Dies widerspricht nicht dem Umstand, dass sich erfahrene Übersetzer um die exakte Wiedergabe jeder lexikalischen und kombinatorischen Besonderheit des Originals bemühen, besonders wenn sie sich nach der Strategie der Form (ausführlicher dazu im Abschnitt 4.3.3) richten. Es geht hier vielmehr um die Wahl der Prioritäten, d.h. um die Gewichtung möglicher translatorischer Entscheidungen.

Die Tatsache, dass bei der Wahl eines passenden funktionalen Äquivalents in den meisten Fällen die Beschaffenheit des Kontextes berücksichtigt werden muss, bedingt die beschränkte Geltung der lexikographischen Lösungen. Zweisprachige Wörterbücher leisten sozusagen nur eine Art Orientierungshilfe. Da es nicht möglich ist, alle eventuellen Kontextbedingungen vorauszusagen, kann man von Wörterbüchern auch nicht erwarten, dass sie Äquivalente anbieten, die allen nur denkbaren Gebrauchsbedingungen genügen. Wichtig ist, dass die Übersetzung eines L1-Idioms mit Hilfe eines quasi- oder pseudoäquivalenten L2-Idioms (selbst wenn auf der Ebene des Sprachsystems – d.h. im „kontextfreien“ Raum – Äquivalenzbeziehungen postuliert werden können) in den meisten Fällen eine weniger akzeptable Lösung darstellt als eine kontextgerechte nichtidiomatische Übersetzung.

Es finden sich jedoch Fälle, in denen die Beibehaltung des konkreten mentalen Bildes, das in der lexikalischen Struktur des Idioms kodiert ist, für das richtige Verständnis der Autorenabsicht entscheidend ist. Es handelt sich in solchen Fällen meistens um Autorenidiome (vgl. zu diesem Begriff [Baranov, Dobrovol’skij 2005b] LOCH). Im Folgenden soll anhand einiger Prosawerke von F.M. Dostoevskij in deutschen Übersetzungen auf diese Problematik ausführlicher eingegangen werden.

Im Roman „Die Brüder Karamazov“ von Dostoevskij erfüllt das Idiom ïàëêà î äâóõ êîíöàõ (wörtlich „Stock mit zwei Enden“) eine textbildende Funktion. Eines der wichtigsten Textfragmente – die Rede des Verteidigers Dmitrij Karamazovs – basiert auf der Idee der „Ambivalenz und Unbestimmtheit“ der Realität und insbesondere des menschlichen Denkens und Verhaltens. Diese Idee wird auf mehreren Textebenen realisiert; sie spiegelt sich auch in der Spezifik des Idiomgebrauchs wider.

In der Rede des Verteidigers manifestiert sich die Idee der Unbestimmtheit im wiederholten Gebrauch des Idioms ïàëêà î äâóõ êîíöàõ und seinen Varianten – vgl. z.B. (1) –, darüber hinaus aber auch in sinngemäß verwandten Ausdrücken, wie etwa ñ îäíîé ñòîðîíû ‘einerseits’, ñ äðóãîé ñòîðîíû ‘andererseits’. Dieses Idiom spielt also zumindest innerhalb des betreffenden Textfragmentes eine zentrale, textorganisierende Rolle. Ausführlicher dazu [Áàðàíîâ, Äîáðîâîëüñêèé 1996á].

(1)       a. Íî âåäü ïñèõîëîãèÿ, ãîñïîäà, õîòü è ãëóáîêàÿ âåùü, à âñå-òàêè ïîõîæà íà ïàëêó î äâóõ êîíöàõ (ñìåøîê â ïóáëèêå). (Ô.Ì. Äîñòîåâñêèé. Áðàòüÿ Êàðàìàçîâû)
b. Aber, meine Herrschaften, die Psychologie ist zwar eine tiefgründige Sache, trotzdem muß man sie als eine Art Stock mit zwei Enden sehen. (Heiterkeit im Publikum.) (Übers.: Creutziger)
c. Nun ist aber die Psychologie zwar eine tiefegründige [sic!] Sache, meine Herren, aber dennoch ähnelt sie dem Stab mit zwei Enden. (Lachen im Publikum.) (Übers.: Ruoff, Hoffmann)
d. Aber die Psychologie, meine Herren, gleicht doch, wenn sie auch etwas Tiefes ist, einem zweischneidigen Schwert. (Leises Gelächter im Publikum.) (Übers.: Lesowsky)

Aus vielen deutschen Übersetzungen des Romans habe ich nun drei herausgegriffen, um drei verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten dieses Idioms zu zeigen: Die beiden ersten Übersetzungen bedienen sich der Strategie der Form, d.h. in diesem Fall der Technik der wörtlichen Wiedergabe (mit leichten Unterschieden in der lexikalischen Struktur), die letztere der Technik eines semantischen Quasiäquivalents.

Auf die Frage, welche der beiden Techniken grundsätzlich vorzuziehen ist, gibt es keine eindeutige Antwort. Es kommt dabei auf viele heterogene Faktoren an, die im Folgenden exemplarisch diskutiert werden.

Die Rede des Verteidigers (und vor allem die damit verbundenen Fragen der Schuld und Unschuld sowie der Legitimation der juristischen Interpretation dieser primär moralischen Kategorien) fand Eingang in philosophische, psychologische und literaturkritische Diskurse. Da das Idiom ïàëêà î äâóõ êîíöàõ für die Organisation dieses Textes so zentral ist, wurde es (genauer: seine Übersetzungen) Gegenstand bestimmter metasprachlicher Reflexionen.

In seiner Arbeit „Dostojewski und die Vatertötung“ interpretiert Sigmund Freud die betreffende Dostoevskij-Passage folgenderweise:

Und nun folgt in dem Plädoyer vor dem Gerichtshof der berühmte Spott auf die Psychologie, sie sei ein Stock mit zwei Enden. Eine großartige Verhüllung, denn man braucht sie nur umzukehren, um den tiefsten Sinn der Dostojewskischen Auffassung zu finden. Nicht die Psychologie verdient den Spott, sondern das gerichtliche Ermittlungsverfahren. Es ist ja gleichgültig, wer die Tat wirklich ausgeführt hat, für die Psychologie kommt es nur darauf an, wer sie in seinem Gefühl gewollt und, als sie geschehen, willkommen geheißen hat, und darum sind bis auf die Kontrastfigur des Aljoscha alle Brüder gleich schuldig, der triebhafte Genußmensch, der skeptische Zyniker und der epileptische Verbrecher. [Freud 2000: 282]

Freud bedient sich dabei der Übersetzung von E.K. Rahsin, die das Idiom ïàëêà î äâóõ êîíöàõ auf die gleiche Weise übersetzt wie Werner Creutziger, nämlich ein Stock mit zwei Enden. Hier muss man gleich darauf hinweisen, dass diese Übersetzungstechnik einen gewissen Nachteil hat, und zwar erweckt sie den Eindruck, dass es sich dabei um eine autorenspezifische, individuelle ad hoc-Metapher handelt. Die Freudsche Interpretation basiert bis zu einem gewissen Grad auf dieser falschen Annahme, weil er die illokutive Kraft der betreffenden Passage als „Spott auf die Psychologie“ auffasst, wobei im Original vielmehr die Ambivalenz der gerichtlichen Indizien im Vordergrund steht, die nur bei bestimmter quasipsychologisch argumentierender Auslegung gegen Dmitrij Karamazov, der bekanntlich nicht den Mord an seinem Vater begangen hat, als Beweise seiner vermeintlichen Schuld verwendet werden konnten.

Es sei hier auch darauf hingewiesen, dass bei der Übersetzung dieses Freudschen Aufsatzes ins Englische der Ausdruck Stock mit zwei Enden als knife that cuts both ways wiedergegeben wurde. Der Übersetzer hat dieses Quasiäquivalent einer mehr oder weniger wörtlichen Übertragung vorgezogen, weil er gemäß den traditionellen philologischen Anforderungen zur englischen Übersetzung der „Brüder Karamazov“ gegriffen hat, in der das russische Idiom ïàëêà î äâóõ êîíöàõ auf diese Weise (also eher mit dem deutschen zweischneidigen Schwert vergleichbar) übersetzt wurde. Diese Tatsache spielt für die weitere Interpretationsgeschichte der betreffenden Textstelle eine bedeutende Rolle.

Da die Arbeit „Dostojewski und die Vatertötung“ stark rezipiert wurde (vor allem im Rahmen des psychoanalytischen Diskurses), finden sich in den entsprechenden Texten weitere Interpretationen der Ideen von Freud, die manchmal auch das Bild, das die jeweilige Übersetzung des Idioms ïàëêà î äâóõ êîíöàõ vermittelt, in die Argumentation einbeziehen. Die Autoren sind sich der Abhängigkeit dieser Interpretationen von der Übersetzung nicht immer bewusst.

Diese Probleme thematisiert u.a. Mary Jacobus [1992]. Vgl. eine charakteristische Textstelle.

Analytiker mit feministischen Ansichten könnten versucht sein, hierauf zu erwidern, daß die Psychologie selbst Wünsche hat; oder wenigstens dies, daß das „zweischneidige Schwert“ ungleich große Scheiben für Männer und Frauen abschneiden könnte. Bezeichnenderweise setzt Freuds geliehene Metapher die Psychoanalyse als solche mit dem Kastrationskomplex gleich, der gerade zu ihrem zentral (in)formierenden Begriff geworden war. [Jacobus 1992: 63]

Es ist verständlich, dass die bildlichen Assoziationen des uns interessierenden Idioms mit dem Abschneiden von Scheiben bzw. mit der Kastration nur dann möglich sind, wenn man sich auf die Übersetzung zweischneidiges Schwert bzw. knife that cuts both ways stützt. Das Idiom des Dostoevskij-Originaltextes und die Übersetzung, die Freud in seinen Schriften verwendet, würden Assoziationen dieser Art nicht gestatten.

In diesem Zusammenhang stellt sich erneut die Frage nach Übersetzungsstrategien bei der Behandlung der Idiomatik. Aus dem analysierten Beispiel geht klar hervor, dass gerade bei den kulturell bedeutenden Texten der Übersetzung von Idiomen eine besondere Verantwortung zukommt. Dieses Beispiel kann zunächst den Schluss provozieren, dass eine (fast) wörtliche Wiedergabe fremdsprachiger Idiome mit der Beibehaltung der bildlichen Grundlage eine bessere Übersetzungsstrategie darstellt. Dies wäre sicher nicht in jedem Fall richtig. Wichtiger ist die Einsicht, dass verschiedene Idiome in einem bestimmten literarischen Werk bzw. im Schaffen eines bestimmten Autors im Ganzen einen sehr unterschiedlichen Stellenwert haben können. Im Idealfall muss bei der Entscheidung, wie jedes konkrete Idiom übersetzt wird, sein Stellenwert berücksichtigt werden. Von einem Übersetzer kann sicherlich kaum erwartet werden, dass er in seiner praktischen Tätigkeit diese Aspekte konsequent mit berücksichtigt. Das ist eher eine Aufgabe der Linguistik.

Es ist also von der linguistischen Forschung zu erwarten, dass diejenigen Idiome, die eine besondere Rolle in einem bestimmten literarischen Werk bzw. im Schaffen eines bestimmten Autors spielen, als solche erkannt und beschrieben werden. Ein konzeptuell zentrales und/oder frequentes Idiom ist auch in der Übersetzung anders zu behandeln als ein „gewöhnlicher“, eher zufällig gebrauchter Ausdruck.

Das Idiom ïàëêà î äâóõ êîíöàõ gehört zu einem der wichtigsten sprachlichen Ausdrücke im gesamten Schaffen von Dostoevskij. Es findet sich wiederholt in verschiedenen Romanen des Autors und trägt, wie gesagt, eine der zentralen Ideen seines Schaffens, nämlich die Idee der universellen Unbestimmtheit, die zu den konzeptuellen Konstanten seines Werkes gezählt werden kann. Kontexte mit diesem Idiom finden sich z.B. wiederholt in „Verbrechen und Strafe“ („Schuld und Sühne“).

In solchen (eher seltenen) Fällen ist es besonders wichtig, das Idiom einheitlich zu übersetzen und nach Möglichkeit das zugrunde liegende Bild beizubehalten, weil man gerade in diesen Fällen stark annehmen kann, dass in sekundären Texten wiederholt auf diesen Ausdruck Bezug genommen wird.

Gehen wir nun auf zwei Textstellen aus dem Roman „Verbrechen und Strafe“ ein – vgl. (2) und (3) –, in denen das Idiom ïàëêà î äâóõ êîíöàõ vorkommt (weitere Kontexte siehe in [Baranov, Dobrovol’skij 2005a]). Es ist hervorzuheben, dass Dostoevskij dieses Idiom ständig modifiziert, und zwar auf eine Art, die im modernen Russisch sehr exotisch klingt bzw. nicht normgerecht ist. Dies erschwert natürlich die Aufgabe des Übersetzers.

(2)       a. Âû âîò èçâîëèòå òåïåðè÷à ãîâîðèòü: óëèêè; äà âåäü îíî, ïîëîæèì, óëèêè-ñ, äà âåäü óëèêè-òî, áàòþøêà, î äâóõ êîíöàõ, áîëüøåþ-òî ÷àñòèþ-ñ, à âåäü ÿ ñëåäîâàòåëü, ñòàëî áûòü, ñëàáûé ÷åëîâåê, êàþñü: õîòåëîñü áû ñëåäñòâèå, òàê ñêàçàòü, ìàòåìàòè÷åñêè ÿñíî ïðåäñòàâèòü, õîòåëîñü áû òàêóþ óëè÷êó äîñòàòü, ÷òîá íà äâàæäû äâà – ÷åòûðå ïîõîäèëî! (Ô.Ì. Äîñòîåâñêèé. Ïðåñòóïëåíèå è íàêàçàíèå)
b. Jetzt werden Sie sagen: Beweise; ja, nehmen wir an, es sind Beweise, Indizien da, aber Beweise haben doch meistenteils, Väterchen, zwei Seiten, und ich bin doch ein Untersuchungsrichter, also ein schwacher Mensch, ich gestehe, daß ich die Untersuchung sozusagen zu einem mathematisch klaren Resultat führen und solch einen Beweis erbringen möchte, daß es dem Zweimal-zwei-ist-vier ähnlich wäre! (Übers.: Lesowsky)
c. Sie sagen: Indizien! Gut, angenommen, man hat seine Indizien, aber Indizien, Verehrtester, sind ein Stock mit zwei Enden, meistens, und ich, ein Ermittelnder Staatsanwalt, folglich ein schwacher Mensch, gestehe: Man wünscht sich, die Ermittlung mit einem sozusagen mathematisch eindeutigen Resultat abzuschließen. Man wünscht sich ein Indiz, das die Verläßlichkeit von zwei mal zwei gleich vier hat! (Übers.: Geier)

(3)       a. Ñòàëî áûòü, è ó Ïîðôèðèÿ òîæå íåò íè÷åãî, êðîìå ýòîãî áðåäà, íèêàêèõ ôàêòîâ, êðîìå ïñèõîëîãèè, êîòîðàÿ î äâóõ êîíöàõ, íè÷åãî ïîëîæèòåëüíîãî. (Ô.Ì. Äîñòîåâñêèé. Ïðåñòóïëåíèå è íàêàçàíèå)
b. Also hat auch Porfirij nichts, nichts außer diesem „Fieberwahn“, keine Tatsachen, außer der „Psychologie“, die „zwei Seiten hat“, nichts Positives. (Übers.: Lesowsky)
c. Folglich hat auch Porfirij nichts in der Hand, gar nichts, außer diesem Delirium, keinerlei Tatsachen, außer der Psychologie, die immer ein Stock mit zwei Enden bleibt, nichts Definitives. (Übers.: Geier)

Diese Kontexte liefern Beispiele für verschiedene Übersetzungstechniken. Valeria Lesowsky übersetzt sozusagen sinngemäß korrekt. Sie geht nämlich vom Nomen aus, das das Subjekt der betreffenden Proposition darstellt und dem das Merkmal der Ambivalenz durch das betreffende Idiom-Fragment prädiziert wird. Dann wird mit diesem Nomen mit Hilfe semantisch quasiäquivalenter Ausdrücke ein sinngemäß passendes Prädikat (in diesem Fall zwei Seiten haben) in Beziehung gesetzt. Swetlana Geier dagegen verfolgt bewusst eine andere Strategie: Sie behält das nominale russische Idiom in seinem Wortlaut bei und setzt es als Prädikativ in die Struktur des betreffenden Satzes ein, d.h. sie schreibt dem Subjekt-Nomen das Merkmal der Ambivalenz (anders als Dostoevskij) nicht mit Hilfe des Idiom-Rests î äâóõ êîíöàõ „mit zwei Enden“ zu, sondern mit Hilfe der „wiederhergestellten“ Nennform ïàëêà î äâóõ êîíöàõ „Stock mit zwei Enden“. Da es im Deutschen kein analoges Idiom mit dem gleichen Bild gibt, ist eine wörtliche Übersetzung im strengen Sinne nicht möglich, denn die Assoziation des modifizierten Ausdrucks mit dem Ausgangsidiom ist im Deutschen grundsätzlich nicht vorhanden. So kann z.B. der Ausdruck óëèêè î äâóõ êîíöàõ aus (2) nicht als Indizien mit zwei Enden bzw. Indizien haben zwei Enden übersetzt werden. Eine solche Übersetzung wäre kaum verständlich. Deshalb stehen dem Übersetzer, wie oben ausgeführt, grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Verfügung, die in (2) auch tatsächlich realisiert werden: vgl. Beweise haben zwei Seiten vs. Indizien sind ein Stock mit zwei Enden.

Ein anderes Idiom, das ich hier besprechen möchte, kann auch als ein Autorenidiom eingestuft werden. Es handelt sich um einen in Dostoevskij-Texten sehr frequenten Ausdruck áûòü íà (êàêîé-ë.) íîãå (ñ êåì-ë.) „auf (irgendeinem) Fuß sein (mit jmdm.)“. Im modernen Russisch gibt es nur drei Idiome, die nach diesem Modell gebildet sind, nämlich íà êîðîòêîé íîãå „auf kurzem Fuß“, íà äðóæåñêîé íîãå „auf freundschaftlichem Fuß“ und íà ðàâíîé íîãå „auf gleichem Fuß“.

In Dostoevskij-Texten finden sich viele Variationen dieses Phrasem-Modells, die nicht als Dostoevskij-spezifisch qualifiziert werden dürfen, weil der Usus der damaligen Zeit in diesem Bereich offensichtlich mehr Freiheit zuließ.

Vgl. im Roman „Ein grüner Junge“ („Der Jüngling“) íà òàêîé áëàãîðîäíîé íîãå, wörtlich „auf so vornehmem Fuße“ (übersetzt mit sind so vornehm geworden und auf so vornehmem Fuß leben);

in der Erzählung „Der ewige Gatte“ íà ïðåêðàñíîé íîãå, wörtlich „auf wunderbarem Fuße“ (übersetzt mit sich ganz vortrefflich stehen mit jmdm. und überall gern gesehen);

in „Verbrechen und Strafe“ („Schuld und Sühne“) íà ðîäñòâåííîé íîãå äåðæàòü, wörtlich „auf familiärem Fuße zu halten“ (übersetzt mit als Familienmitglied behandeln);

in „Der Spieler“ íà áîëåå òîíêîé è äåëèêàòíîé íîãå, wörtlich „auf feinerem und delikaterem Fuße“ (übersetzt mit weit rücksichtsvoller und diskreter, viel feiner und vornehmer, auf weniger festem Fuße und auf formalerem, delikaterem Fuß). Vgl. die entsprechenden Kontexte in [Baranov, Dobrovol’skij 2005a].

Diese Beispiele zeigen, dass sehr unterschiedliche Übersetzungstechniken gewählt werden können, die alle das inhaltlich adäquate Verständnis der jeweiligen Textstelle gewährleisten. Andererseits, wenn die Übersetzung das Ziel verfolgt, relevante Besonderheiten des Autorenstils wiederzugeben (im Sinne der Strategie der Form), ist eine wortgetreue Übertragung vorzuziehen. Da Ausdrücke mit der Konstituente Fuß, die den Charakter zwischenmenschlicher Beziehungen bezeichnen, für die Sprache von Dostoevskij (bzw. für die Sprache der damaligen Zeit) typisch sind, ist es wünschenswert, dass die Übersetzung diese Besonderheit beibehält. Wichtig ist dabei natürlich, dass die Übersetzung verständlich bleibt. Das scheint in diesem Fall auch bei der wortgetreuen Übersetzung garantiert zu sein, denn das Deutsche kennt ähnlich gebaute Ausdrücke, vgl. auf dem Kriegsfuß, auf vertrautem Fuß u.ä. Wenn Ausdrücke wie auf so vornehmem Fuß oder auf formalerem, delikaterem Fuß im Deutschen merkwürdig und nicht ganz normgerecht klingen, ist dies eher von Vorteil, weil die entsprechenden russischen Ausdrücke vom Standpunkt der gegenwärtigen usuellen Normen aus auch als höchst exotisch empfunden werden.

Besonders wichtig ist die Beibehaltung des Dictums des Autors in den Fällen, in denen es sich um intendierte Wortspiele handelt bzw. in denen der betreffende Ausdruck zum Gegenstand metasprachlicher Kommentare wird. Vgl. dazu Kontext (4).

(4)       a. – Åãî [Ñíåãèðåâà], ãëàâíîå, íàäî òåïåðü óáåäèòü â òîì, ÷òî îí ó íàñ äåíüãè áåðåò, – ïðîäîëæàë â ñâîåì óïîåíèè Àëåøà, – è íå òîëüêî íà ðàâíîé, íî äàæå íà âûñøåé íîãå... – «Íà âûñøåé íîãå» – ïðåëåñòíî, Àëåêñåé Ôåäîðîâè÷, íî ãîâîðèòå, ãîâîðèòå! – Òî åñòü ÿ íå òàê âûðàçèëñÿ... ïðî âûñøóþ íîãó... íî ýòî íè÷åãî, ïîòîìó ÷òî... – Àõ, íè÷åãî, íè÷åãî, êîíå÷íî, íè÷åãî! Ïðîñòèòå, Àëåøà, ìèëûé... Çíàåòå, ÿ âàñ äî ñèõ ïîð ïî÷òè íå óâàæàëà... òî åñòü óâàæàëà, äà íà ðàâíîé íîãå, à òåïåðü áóäó íà âûñøåé óâàæàòü... Ìèëûé, íå ñåðäèòåñü, ÷òî ÿ «îñòðþ», – ïîäõâàòèëà îíà [Lise Õîõëàêîâà] òîò÷àñ æå ñ ñèëüíûì ÷óâñòâîì. (Ô.Ì. Äîñòîåâñêèé. Áðàòüÿ Êàðàìàçîâû)
b. „Jetzt gilt es, ihn davon zu überzeugen, daß er mit uns allen auf gleicher Stufe steht, auch wenn er Geld von uns nimmt“, fuhr Aljoscha in seiner Begeisterung fort, „und nicht nur auf gleicher, sondern auf höherer Stufe.“ „‘Auf höherer Stufe’ – das ist wunderbar, Alexej Fjodorowitsch, doch sprechen Sie weiter, weiter!“ „Das heißt, ich habe mich falsch ausgedrückt ... was die höhere Stufe betrifft... aber das macht nichts, denn...“ „Macht nichts, gar nichts, natürlich nichts! Verzeihen Sie, Aljoscha, Lieber... Wissen Sie, bis jetzt habe ich Sie fast gar nicht geachtet... das heißt, geachtet schon, aber auf gleicher Stufe, von nun an werde ich Sie auf höherer Stufe achten.“ Und mit starkem Gefühl fuhr sie, an diesem Gedanken festhaltend, fort: „Lieber, seien Sie mir nicht böse, daß ich mit den Worten spiele. <...>.“ (Übers.: Creutziger)
c. „Man muß ihn jetzt vor allem davon überzeugen, daß er mit uns allen auf gleichem Fuße steht, obwohl er von uns Geld annimmt“, fuhr Aljoscha in seinem Taumel fort, „und nicht nur auf gleichem, sondern sogar auf höherem Fuße als wir...“ „‘Auf höherem Fuße’ – das haben Sie prächtig gesagt, Alexej Fjodorowitsch, aber reden Sie weiter, reden Sie weiter!“ „Das heißt, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt... als ich das von dem höheren Fuße sagte... aber das macht nichts, weil...“ „Ach, es macht nichts, es macht nichts, natürlich macht es nichts! Verzeihen Sie, Aljoscha, Sie Lieber... Wissen Sie, ich habe Sie bis jetzt nicht recht geachtet... das heißt, ich habe Sie wohl geachtet, aber nur als auf gleichem Fuße stehend, jetzt aber werde ich Sie als auf höherem stehend achten... Sie Lieber, seien Sie mir nicht böse, daß ich solche Dummheiten rede“, fügte sie sofort pathetisch hinzu. (Übers.: Ruoff, Hoffmann)

Hier handelt es sich um einen Dialog von Alëša Karamazov und Lise Chochlakova. Alëša macht Pläne, wie sie dem armen und erniedrigten Snegirëv mit Geld helfen können. In seiner Begeisterung verwendet er den Ausdruck íå òîëüêî íà ðàâíîé, íî äàæå íà âûñøåé íîãå (wörtlich „nicht nur auf gleichem, sondern auf höherem/höchstem Fuße“), der auch aus der Sicht der Normen der damaligen Zeit nicht usuell war und sicher komisch klang. Lise Chochlakova macht sich über diesen Versprecher (und damit auch über Alëšas naive Begeisterung) lustig: vgl. das haben Sie prächtig gesagt etc. Alëša versucht, sich zu korrigieren: ich habe mich falsch ausgedrückt, worauf Lise wieder halb sich entschuldigend halb spöttisch erwidert. Dieses ganze metasprachliche Spiel geht verloren, wenn in der Übersetzung ein normgerechter Ausdruck verwendet wird. Vgl. in der Übersetzung von Werner Creutziger: nicht nur auf gleicher, sondern auf höherer Stufe. Das macht die Reaktion von Lise das ist wunderbar, Alexej Fjodorowitsch, doch sprechen Sie weiter, weiter! und die weitere Reaktion Alëšas ich habe mich falsch ausgedrückt weniger verständlich.

Im Folgenden soll die Problematik der Übersetzung schwieriger Phraseme (vor allem veralteter bzw. autorenspezifischer Idiome) erörtert werden. Vgl. (5).

(5)       a. Îíà âñþ æèçíü áóäåò ìåíÿ çà âàëåòà áóáíîâîãî ñ÷èòàòü (äà ýòî-òî åé, ìîæåò áûòü, è íàäî) è âñå-òàêè ëþáèòü ïî-ñâîåìó; îíà ê òîìó ïðèãîòîâëÿåòñÿ, òàêîé óæ õàðàêòåð. (Ô.Ì. Äîñòîåâñêèé. Èäèîò)
b. Sie wird mich zeit ihres Lebens für einen miesen Gauner halten (das braucht sie vielleicht) und mich dennoch auf ihre Weise lieben; darauf stellt sie sich ein, das liegt in ihrem Charakter. (Übers.: Herboth)
c. Ihr Leben lang wird sie mich für einen Karo-Buben halten (aber vielleicht ist es genau das, was sie braucht) und mich trotzdem auf ihre Art lieben; sie stellt sich schon darauf ein, das ist eben ihr Charakter. (Übers.: Geier)

Das Problem besteht hier darin, dass das russische Idiom áóáíîâûé âàëåò für den modernen Leser unverständlich ist. In diesem Sinne ist der deutsche Leser des Romans in der Übersetzung von Hartmut Herboth in einer besseren Situation als der russische Leser des Originaltextes. Andererseits liegt gerade in dieser Unverständlichkeit der betreffenden Textstelle ihr besonderer ästhetischer Effekt. Von diesem Standpunkt aus ist die Version von Swetlana Geier eher adäquat, besonders wenn man davon ausgeht, dass ein gut gebildeter Leser auch heute über relevantes kulturbasiertes Wissen verfügt. In der französischen Tradition des Kartenlegens wurde der Karo-Bube zumindest im 19. Jahrhundert neben der Interpretation „Bote, Botschaft, Nachricht“ auch mit der Interpretation „Gauner, schlauer Kerl“ versehen, die auf die Assoziation des Karo-Buben mit Merkur zurückgeht. Diese Interpretation war in der russischen (und wahrscheinlich auch in der deutschen) Kultur des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt. Dafür gibt es indirekte Beweise. Die berühmte Vereinigung russischer Avantgarde-Künstler zu Anfang des 20. Jahrhunderts heißt «Áóáíîâûé âàëåò». Es ist bekannt, dass Larionov diesen Namen als eine bewusste Anspielung auf die „Gauner“-Interpretation dieser Spielkarte vorgeschlagen hat. Das zeugt indirekt davon, dass man damals grundsätzlich davon ausgehen konnte, dass diese Interpretation zumindest in den gebildeten Kreisen verständlich war.

Aus dem bis jetzt Gesagten könnte der Eindruck entstehen, dass hier generell für eine quasiwörtliche Übersetzung der Phraseme in der klassischen Literatur plädiert werde. Dem ist sicher nicht so. Es finden sich genug Fälle, in denen alle Versuche, das L1-Idiom mit Hilfe eines ähnlichen L2-Idioms wiederzugeben, eher irreführend sind. Vgl. (6).

(6)       a. Âñå îíè, è âû âìåñòå ñ íèìè, ïðîñìîòðåëè ðóññêèé íàðîä ñêâîçü ïàëüöû, à Áåëèíñêèé îñîáåííî: óæ èç òîãî ñàìîãî ïèñüìà åãî Ãîãîëþ ýòî âèäíî. (Ô.Ì. Äîñòîåâñêèé. Áåñû)
b. Alle diese Leute, und Sie mit ihnen, haben das russische Volk durch eine rosarote Brille betrachtet, und Belinski ganz besonders; das kann man ja schon aus seinem Brief an Gogol erkennen. (Übers.: Dalitz)
c. Alle diese Männer, und Sie mit ihnen, haben das russische Volk nur mit halbem Auge gesehen, und Belinskij ganz besonders; das ist aus diesem Briefe an Gogol ganz klar ersichtlich. (Übers.: Kegel)
d. Diese alle, und Sie mit ihnen, haben das russische Volk einfach übersehen, und Belinskij ganz besonders; das sieht man schon allein an diesem Brief an Gogol. (Übers.: Geier)

Die Kombination des Verbs ïðîñìîòðåòü ‘übersehen’ mit dem Idiom ñìîòðåòü ñêâîçü ïàëüöû (íà ÷òî-ë.) ‘» ein Auge zudrücken (bei etw.)’ ist zumindest aus der heutigen Sicht eine fehlerhafte Kontamination. Abgesehen von der Frage, welche ästhetische Funktion diese Kontamination im Originaltext hat (wichtig ist, dass es sich dabei um die Äußerung einer Romanfigur und nicht um die Autorensprache handelt), ist hier sinngemäß eindeutig ‘übersehen’ gemeint. Eine ähnliche Kontamination (??mit einem Auge übersehen) wäre im Deutschen (selbst als bewusstes Wortspiel) kaum verständlich. In solchen Fällen muss selbst die auf eine maximale Originaltreue ausgerichtete Übersetzung auf die Strategie der sinngemäßen Inhaltswiedergabe umschalten.